Verloren in einer Parallelwelt – Videospielsucht und ihre Risiken

Immer schneller wummert das Herz in der Brust. Eine Runde noch. Die Atemzüge werden kürzer. Diese eine Quest noch zu Ende bringen. Dopamin rauscht durch die Blutbahn. Nur noch diesen einen Boss besiegen… Wenn wir Videospiele spielen, aktiviert unser Körper eine aufregende Kettenreaktion. Wir fühlen uns gut, haben Spaß. Aber was ist, wenn es nicht bei „nur noch einer Runde“ bleibt?

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Zwischen einem und zwei Prozent aller Personen in Deutschland sind laut wissenschaftlichen Studien süchtig nach Videospielen. Das sind bis zu 1,66 Millionen Menschen.

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Und diese Zahl wird mutmaßlich nicht geringer werden. Denn nicht nur zeichnen sich in Ambulanzen aktuell negative Auswirkungen durch die Corona-Pandemie ab. Auch die Entwickler treiben mit Lootboxen einen Trend an, der Menschen in Notlagen weit über die Videospielsucht hinaus treibt.

Was ist Videospielsucht und wie macht sie sich bemerkbar?

„Betroffene nehmen es meist viel zu spät wahr, dass etwas nicht stimmt“, sagt Kai Müller im Exklusiv-Interview mit esports.com. Der Psychologe ist Gründungsmitglied der Ambulanz für Spielsucht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die sich als erste in Deutschland auch mit Videospielsucht beschäftigte. Erste Anzeichen für eine Sucht seien kaum messbar, sondern zeigen sich eher im Verhalten der Personen.

„Typische Frühwarnzeichen sind, wenn das Spielen weniger zur Freizeitbeschäftigung und mehr zum zentralen Thema in der Lebensgestaltung wird. Gedanken schweifen nur noch zum Spiel, man spürt einen inneren Druck, wieder zu spielen“, so Müller.

Statistik zu Videospielenden in DeutschlandStatistik zu Videospielenden in Deutschland
Wer spielt eigentlich in Deutschland? Quelle: bitkom.

Ein Warnzeichen ist laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und vielen wissenschaftlichen Studien, wenn Betroffene sich aus Bereichen und Aktivitäten, die ihnen früher wichtig waren, zurückziehen, um stattdessen zu zocken. „Das geschieht meist gar nicht abrupt, sondern sukzessive“, bestätigt Kai Müller. „Das Umfeld bemerkt solche negativen Veränderungen meistens daran, dass Personen weniger engagiert sind und abwesend wirken.“

Seit 2018 ist Videospielsucht von der WHO als Krankheit anerkannt. Eine Entscheidung, die Branchenvertreter häufig kritisieren. Es sei fraglich, ob Computerspielsucht nicht eine Auswirkung von psychischen Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen sei, wird gegenargumentiert. Zu wenig sei das Phänomen erst erforscht.

Was macht uns süchtig nach Videospielen?

Wo die Forschung tatsächlich noch wenige Erkenntnisse aufweist, ist bei der Frage, was genau uns an Videospielen eigentlich süchtig macht. Viele Forschenden vermuten eine Verbindung zu den Belohnungsreizen, die Spiele bei uns auslösen. Wenn man motivierende, aktivierende Effekte aus seinem Alltag nicht kenne und nur im Spiel erfahre, sei man eher gefährdet für eine Abhängigkeit, so Kai Müller.

Und doch zeigt sich bei einer bestimmten Sorte von Spiel ein besonderer Trend. „Generell setzen wir uns erst mit Computerspielsucht auseinander, seit es Online-Spiele gibt“, sagt der Psychologe der Uni Mainz.

Da war die Welt noch in Ordnung? Forschung zu Videospielsucht nahm erst mit dem Erfolg von Online-Games richtig Fahrt auf. Bild: pixabay.

Ein Report der DAK-Gesundheit und des Deutschen Zentrums für Suchtfragen kommt 2019 zu dem Schluss, dass zum einen der soziale Aspekt von Online-Spielen abhängig machen könne. Dazu gehöre sowohl, sich miteinander unter gleichen Voraussetzungen zu messen und über Gegner:innen zu triumphieren, aber auch miteinander zu kooperieren. Viele Online-Spiele wie League of Legends oder Counter-Strike haben zudem kein endgültiges Ziel oder Ende. Immer wieder werden neue Spielerlebnisse oder Belohnungen angeboten. “Da verlieren sich die Nutzer dann in einer Parallelwelt”, erklärt Kai Müller.

War die Pandemie ein Brandbeschleuniger?

Einen Boom erlebten Videospiele, vor allem aber Online-Games, während der Corona-Pandemie. Dank Stay-at-Home zog es immer mehr Menschen vor die Bildschirme. Laut des Digitalverbands Bitkom verdoppelte sich die durchschnittliche Spieldauer der Deutschen von fünf auf zehn Stunden pro Woche.

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Ob Corona dadurch auch einen Einfluss auf die Zahl der Videospielsüchtigen hat, darüber streiten Experten. Schließlich sagt eine längere Spieldauer, vor allem während gleichzeitig Freizeitmöglichkeiten wegfielen, noch nichts über ein Suchtverhalten aus. An der Ambulanz der Uni Mainz sei Corona jedoch jetzt schon spürbar.

Seit Beginn der Pandemie beobachte man einen Zuwachs psychischer Krankheiten, darunter auch Suchtkrankheiten, sagt Kai Müller. „Sei es nun Online-Glücksspielsucht, Pornosucht oder Videospielsucht.“ Die Zahl der Erstgespräche habe sich in Mainz seit Corona „um ein Vielfaches gesteigert.“

Lootboxen als „ganz kritische Entwicklung“

Neben dem Corona-Trend besorgt Kai Müller und sein Team jedoch ein anderes Problem, das auch seit Jahren in der Games-Branche kritisch diskutiert wird. Immer mehr Entwickler nutzen Lootboxen und In-Game-Transaktionen, um zusätzliche Umsätze zu generieren. Mit Erfolg: Wie das Branchen-Magazin GamesWirtschaft diese Woche meldete, gaben die Deutschen 2021 alleine für In-Game- oder In-App-Käufe mehr Geld aus als für Spielwaren, Kino, Musik-Streaming und Kinder- und Jugendbücher zusammen.

Dieser Kaufrausch macht sich auch in der Mainzer Ambulanz bemerkbar. Seit etwa drei bis vier Jahren beobachte man dort immer mehr Videospielsüchtige, die zusätzlich auch mit einer finanziellen Überschuldung zu kämpfen hätten. „Früher gab es das gar nicht, heute ist es schon fast die Regel“, sagt Kai Müller.

Bei den Betroffenen sei das vor allem auf exzessive In-Game-Käufe von Skins und Ausrüstung, aber auch verstärkenden Inhalten, die zum nächsten Sieg verhelfen und damit das Glücksgefühl wieder auslösen. Und auf Lootboxen, die der Psychologe als „ganz kritische Entwicklung“ sieht. Menschen seien schon seit der Antike für Glücksspiel anfällig, zeige die Forschung. Komme in einem Videospiel eine Form des Glücksspiels hinzu, würde dieses noch gefährlicher werden, was das Suchtpotenzial angeht, so Müller.

Wir wollen den Standpunkt der Gegenseite erfahren und kontaktieren vier der größten Videospiel-Publisher, in deren Spielen auch Lootboxen und In-Game-Käufe angeboten werden: EA, Riot Games, Valve und Activision Blizzard. Wir wollen wissen, ob und wie sie ihre Kunden vor einer möglichen Spielsucht, aber auch exzessivem Kaufverhalten schützen. Keines der Unternehmen antwortet darauf.

In einem Statement gegenüber Eurogamer verteidigte EA zuletzt den geplanten Einsatz von Lootboxen in FIFA 23. Es sei “ein Teil von FIFA, den die Spieler lieben”.

Offen über Gefahren sprechen

Sucht ist in unserer Gesellschaft nach wie vor ein Tabuthema. Videospielsucht ist da nicht anders, vielleicht sogar noch ein Sonderfall. „Das Thema wird oft weggedrückt und weggelächelt“, sagt Kai Müller. Oft reagieren Gamer bei dem Thema abwehrend, fürchten eine weitere Stigmatisierung ihres Hobbys. Der Psychologe der Uni Mainz hat Verständnis für diesen Abwehrmechanismus und fordert trotzdem eine offene Debatte.

„Wer einen Weinmarkt besucht, ist ja auch nicht direkt ein verkappter Alkoholiker. Und die allermeisten in Deutschland können mit Videospielen und der Dosierung sehr gut umgehen“, sagt er. „Es gibt aber auch einen kleinen Teil, der Hilfe braucht. Den sollte man nicht übersehen oder verkennen.“

Habt ihr selbst oder euer Umfeld schon Erfahrungen mit Videospielsucht gemacht und wie seit ihr damit umgegangen? Schreibt es uns auf FacebookTwitter oder DiscordGebt uns hier auch gerne Feedback zu unserer Website!

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